Die Spuren der Zeit
ARTIMA-Interview mit Alexander Ehrhard alias T!ME(s)*
Von seinen Sammlern wird Alexander Ehrhard aufgrund seiner handwerklichen Begabung und der Kombination untypischer Materialien oft liebevoll als „der Schwaben-Banksy“ bezeichnet. ZEIT spielt bei seiner Kunst eine sehr zentrale Rolle, sowohl bei der Entstehung neuer Werke als auch thematisch. Für die Fertigstellung eines Bildes benötigt er nicht selten mehrere Monate.
Als Grundlage für seine Decollage-Technik verwendet Alexander Ehrhard hauptsächlich Alte Bücher und Kunstdrucke, die bis zu 16 Schichten anwachsen. Durch das Abreißen von Papier an manchen Stellen werden bestimmte Motive wieder freigelegt. Mit der Kombination aus verschiedenen Spray-, Acryl-, Kreide-, Ölfarben und Pigmenten sowie Mixed Media erzeugt er eine ungewöhnliche Bildtiefe in seinen Arbeiten, die auf Fotos nicht festgehalten werden können.
Für ARTIMA legte die Kunsthistorikerin und Kuratorin Ánh Nguyen einen Zwischenstopp bei Sigmaringen ein und hat Alexander Ehrhard persönlich in seinem Atelier interviewt. Dieser befindet sich aktuell in Vorbereitung für seine Ausstellung bei der Artmuc (13.5.-16.5.2022) auf der Praterinsel München.
ARTIMA: Jeder Mensch hat eine persönliche Geschichte und Erlebnisse, die seine Entscheidungen nachhaltig prägen und ihn zu seiner Berufung führen. Was fasziniert Dich persönlich an der Kunst und welches Schlüsselerlebnis führte dazu, dass Du Künstler geworden bist?
AE: Ich male bereits seit ich ein Kind bin und wurde recht früh durch die Schule und meine Eltern gefördert. Ich liebte es, in Bildbänden die Gemälde alter Meister detailgetreu abzuzeichnen und eigene surreale Bildwelten in Öl zu erschaffen. Durch das Kopieren von Plattencovern und Postern diverser Rock- und Popbands konnte ich damals mein Taschengeld aufbessern. Dieses Talent empfand ich selbst nie als etwas Besonderes oder Essentielles, bis zu einer Phase in meiner Kindheit, als ich aufgrund eines Säureunfalls in der Werkstatt meines Großvaters für kurze Zeit mein Augenlicht verloren hatte. Nach wenigen Tagen realisierte ich, wie wichtig mir meine Malerei war und wie sehr sie mir fehlte. Dies war mein erstes großes Schlüsselerlebnis mit der Kunst. Seit diesem Zeitpunkt gab es nur sehr wenige Tage in meinem Leben, an denen ich nicht in irgendeiner Weise meine Kreativität ausgelebt habe. Kunst zu schaffen ist für mich so selbstverständlich und wichtig wie Atmen. Eine Entscheidung Künstler zu werden musste ich daher auch nie treffen. Die Kunst hat sich scheinbar für mich entschieden und ich habe das Angebot sehr dankbar angenommen. Dieses Geschenk hüte ich wie einen wertvollen Schatz.
Kunst ist eine ehrenwerte Handarbeit, die mit einem ersten beherzten Handgriff beginnt und mit einer letzten liebevollen Berührung endet. Was dazwischen passiert, hat etwas mit wunderbarer Magie zu tun, die mich seither in ihrem Bann zieht und nicht mehr loslässt.
In Deinen Arbeiten greifst du die Motive Alter Meister auf und verarbeitest sie zu neuen Kunstwerken. Welche Rolle spielt die Klassische Malerei für Dich und warum hast du Dich auf Porträts spezialisiert?
Porträts als Motiv in meine Arbeiten einfließen zu lassen gibt mir die Möglichkeit, den Betrachter leichter zu erreichen und zum Hinsehen zu animieren. Denn mit nichts kann man bei einem Betrachter schneller Emotionen erzeugen als durch das Ansehen eines Gesichtsausdrucks. Ich nutze diese Erkenntnis aus der Psychologie bewusst und versuche dies noch zu verstärken, indem ich bekannte Bilder alter Meister soweit verfremde oder ergänze, so dass der Betrachter durch den erzeugten „Störfaktor“ zur Neuentdeckung angeregt wird.
Die zeitgenössische Kunst ist zwar eine natürliche Entwicklung auf dem langen Weg der Kunstevolution, was ich aber als Künstler im Moment wahrnehme, ist ein kollektives Vergessen von gewachsenen Werten, wofür Kunst stehen sollte, und ein Verlust an Wertschätzung an der erbrachten Leistung vergangener Generationen von wichtigen Künstlern. Die Arbeiten dieser „alten“ Maler legten vor Jahrzehnten den Grundstein für unsere heutige Sichtweise der Malerei und prägten nachhaltig diverse Kunststile über Generationen hinweg. Noch viele der Motive von Caravaggio oder Bouguereau sind heute noch inhaltlich zeitgemäß und haben nichts an ihrer politischen oder zwischenmenschlichen Relevanz und Thematik verloren. Ich möchte durch meine Arbeiten dem Vergessen dieser wunderbaren Werke entgegenwirken. Denn egal was man im Leben macht und welchen Weg man geht, man sollte nie seine Wurzeln vergessen und für das dankbar sein, was einem zu dem gemacht hat, was man geworden ist. So sollte es auch bei meiner Kunst sein.
Wenn Du die Gelegenheit hättest Dich mit einem Alten Meister zu unterhalten, wen würdest du wählen und warum?
Eigentlich würde ich ja sagen Leonardo Da Vinci, weil er so vieles für uns alle bewegt hat und noch heute in Vielem so präsent ist… aber er hätte wahrscheinlich keine Zeit für mich, da er sicherlich zu beschäftigt wäre, das Rad neu zu erfinden!
Daher würde ich mich super gerne bei einer guten Flasche Wein mit Giuseppe Arcimboldo darüber unterhalten, wie er so wunderbare Bilderwelten kreieren konnte, die noch heute so fesselnd und wegweisend sind. Was Arcimboldo für die moderne Malerei und vor allem für die surreale Malerei vorweggenommen hat, ist unglaublich wertvoll!
Auf den ersten Blick erwecken Deine Bilder den Eindruck, als würde es sich hier um Collagen handeln. Doch wenn man genauer hinschaut, bemerkt man erst die Mixed Media Technik. Wie entstehen Deine Werke, welche Techniken und Materialien verwendest du?
Über die Jahre habe ich viele kreative Techniken ausprobiert und freue mich auf jede neue Möglichkeit meine Ideen umzusetzen.
Meine Werke sind meist eine Mischung aus den klassischen Streetart-Techniken: Paste-Up, Decollage-Technik und gesprühte Motive ergänzt durch Elemente aus der Malerei und diverser Druckverfahren. Dabei werden mehrere Schichten aus unterschiedlichem Papier, Sprüh- und Acrylfarbe auf der jeweiligen Untergrundschicht aufgebracht. Dann trage ich diese gezielt ab, um darunter liegende Elemente wieder frei zu legen. Das Hauptmotiv baue ich somit Schicht um Schicht auf, so dass ein Werk aus 4 bis 16 Lagen besteht.
Die Papiere die ich dabei verwende, finde ich in sehr alten Büchern, die zum Teil über 150 Jahre und älter sind. Alte internationale Zeitschriften, uralte handgefertigte Drucke und seltene aber beschädigte Sammler-Comics, die für viele bereits Müll sind, durchsuche ich nach passenden Farb- oder Konturelementen für mein Kunstwerk.
Zudem nutze ich Elemente der japanischen Reparaturtechnik „Kintsugi“. Man setzt zerbrochene Gegenstände wieder zusammen und anstatt die Bruchkanten zu verdecken, werden diese durch Gold hervorgehoben. Der zuvor beschädigte Gegenstand symbolisiert somit in wunderbarer Weise Heilung und Widerstandskraft. Angelehnt an dieser Philosophie entstehen auch meine Bilder, die gerade durch ihre Narben und Risse eine neue Präsenz und Würde erhalten.
Meine Kunst entsteht aufgrund der sehr aufwändigen Technik und der oft langwierigen Suche nach verwendbaren Materialien in absoluter „Slow Motion“ und in einer dafür notwendigen chirurgischen Präzision. Um eine Arbeit fertigzustellen, muss ich jeden Schritt zuvor mehrfach „trocken üben“, da meine Technik mir keinen noch so kleinen Fehler verzeiht. Dies ist auch ein Grund, warum ich kein Künstler bin, der viele Werke in kurzer Zeit produzieren kann (und will). Meine Arbeiten sind deshalb auch wirkliche Raritäten auf einem zum Teil überschwemmten Kunstmarkt und ich gebe sie nur zum Verkauf frei, wenn sie den höchsten Grad an Perfektion widerspiegeln, den mein Handwerk bis zu diesem Zeitpunkt erreicht hat.
Als Künstler hast Du einen beachtlichen Sammlerkreis und viele Bewunderer. Sammelst du selber auch Kunst? Was schätzt Du an anderen Kreativschaffenden?
Ja, ich sammle sehr leidenschaftlich Kunst aus den unterschiedlichsten Genres. Für mich macht dies aus zwei Gründen absolut Sinn: Erstens, ich kann mir ein Kunstwerk solange ansehen wie ich es will, ohne das mich eine Museumsführung zum weitergehen drängt. Es gehört mir ganz alleine, ich kann es erforschen, davon lernen, mich jeden Tag aufs Neue daran erfreuen und mich inspirieren lassen. Und wer weiß…vielleicht war es sogar die genialste Kapitalanlage meines Lebens?
Zweitens, ich unterstütze kreative Menschen durch das Sammeln von Kunst sich weiter zu entwickeln und neue Arbeiten zu schaffen. Wie langweilig und trist eine Gesellschaft ohne kulturelles Treiben ist, haben wir ja während des Corona-Lockdowns erlebt.
An kreativen Menschen schätze ich sehr die Vielfalt der unterschiedlichen Ausdrucksweisen, die wir mit unserem Schaffen erzeugen, ob mit bildender Kunst, Musik oder darstellender Kunst.
Nicht selten sind Künstler oft vielseitig begabt. Hast du außer der Kunst noch ein anderes Hobby?
Wenn mir Zeit bleibt, spiele ich sehr gerne auf dem Didgeridoo. Dies ist ein Blasintrument das traditionell von den Aborigines seit Jahrtausenden in Australien gespielt wird. Ich finde es immer wieder erstaunlich welche Möglichkeiten es gibt dieses Instrument zu spielen. Zwischen einfachen und komplexen Rhythmen ist alles möglich. Nach einem harten Tag gibt es mir den nötigen Ausgleich und erdet mich wieder. Eine Begabung, um dieses Instrument zu spielen ist allerdings nicht nötig, man muss nur die Lust haben es zu tun und das Didgeridoo dankt es dir mit wunderbaren Klängen.
Jeder Künstler verfolgt mit seiner Kunst ein eigenes Ziel. Welche Botschaft möchtest du mit Deiner Kunst an das Publikum weitergeben?
In meinen Werkzyklus T!ME(s)* beschäftige ich mich stark mit dem Thema Zeit und wie ich die Spuren der Zeit für den Betrachter sichtbar und erlebbar machen kann. Meine Arbeit kann man besser verstehen, wenn man die Gehirnfunktion beim Betrachten von Kunst nachvollzieht. Denn wir vergleichen täglich unbewusst abgespeicherte Erinnerungen und die damit verknüpften Emotionen aus der Vergangenheit mit den aktuellen Wahrnehmungen und Bildern ab. Darin suchen wir nach übereinstimmenden Informationen und Mustern, die einen bestimmten Gefühlszustand in uns wachrufen.
Durch die spezielle Verarbeitung unterschiedlicher Materialien in meinen Bildern, entstehen Risse, Furchen und transparente Stellen, womit ich bewusst allseits bekannte Altmeistermotive entfremde. So findet automatisch ein Vergleichsprozess zwischen den klassischen Darstellungen statt, die sich bereits im Gedächtnis des Betrachters verankert haben, und die stilisierten Altmeistermotive in meinen Arbeiten. Auf diese Weise bringe ich den Betrachter dazu, sich intensiver mit dem Kunstwerk zu beschäftigen. Da meine "beschädigten" Motive immer noch deutliche Übereinstimmungen mit dem Original aufweisen, kann der Betrachter die Ähnlichkeiten mit den abgespeicherten Bildern im Kopf abgleichen und nimmt die Risse eher als Narben oder "reparierte Beschädigungen" auf. Diese Gebrauchsspuren und kleine Makel nimmt der Mensch als Verletzung wahr und definiert erst nach Bestimmung des Gegenstandes, welchen Stellenwert an Mitgefühl, Gleichgültigkeit oder Bewunderung er ihm beimisst. Einem über die Jahre verschlissenes Möbelstück werden wir sehr wenig Mitgefühl entgegenbringen, im Gegenteil, wir empfinden vielleicht sogar Faszination dafür, da es so viele Geschichten erzählen kann. Bei einem Menschen, dessen ganzer Körper mit Narben übersät ist, empfinden wir automatisch Mitgefühl und werden das Erlittene hinterfragen. Da Menschen, die ersichtlich starke Narben haben, in unserem Kopf oft mit den Schlagwörtern Schmerz, Überlebt, Geheilt und Stärke verbunden werden. Dadurch wandelt sich das Gesehene von einem Objekt zu einem emotionalem Zustand.
Die japanische Reparaturtechnik Kintsugi (mit Gold kleben) legte den Grundstein für die Entwicklung meiner Technik. Sie ist Teil der Wabi-Sabi Ästhetik und Lehre, welche die Einfachheit und die Wertschätzung der Fehlerhaftigkeit in das Zentrum ihrer Anschauung stellt. Diese Aspekte kommen meinem Grundgedanke über die Darstellung von Zeitspuren sehr nahe und es erschien mir wie eine Vorbestimmung diese Technik in meine Arbeiten zu integrieren. Denn ich stelle bewusst den Makel und die Fehler in das Zentrum meiner Arbeit. Durch die Transparenz der Papierlagen in meinen Bildern eröffne ich dem Betrachter die Möglichkeit wortwörtlich tiefer darin einzutauchen. Meine Kunst soll den Betrachter unbewusst zum Sehen motivieren und ihm zeigen, was die vergehende Zeit oder die ständig wechselnde Wertvorstellung einer Gesellschaft mit unserer Kultur macht. Wir konsumieren ohne zu hinterfragen, beschädigen Sachen mit dem Wissen, dass es unwiederbringlich zerstört, aber wieder problemlos ersetzbar ist.
Funktionierende Dinge werden ständig erneuert, um sich neuen Trends zugehörig zu zeigen, somit entstehen Berge aus noch brauchbarem-unbrauchbarem Müll. Auch bei uns Menschen hinterlässt die Zeit Narben, sie geht niemals spurlos an uns vorbei. Ich möchte den Blick des Betrachters genau auf diese Zeitspuren lenken. Man soll das eigene Verhalten, die eigenen unsichtbaren oder auch sichtbaren Narben neu entdecken und diese hinterfragen. Denn jede Narbe und jeder Makel symbolisiert wertvolle Erlebnisse und positive sowie negative Erfahrungen, die unseren Charakter bilden und uns als Mensch ausmachen. Nur sie zeigen uns am Ende, dass wir die geschenkte Lebenszeit genutzt und wahrgenommen haben.
Vielen Dank für das tolle Gespräch.
Interview und Text von Ánh
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