Kunstszene

Die Frankfurter Kunstmeile im Frühjahr

Das Frankfurter Museumsufer ist immer eine Reise wert.

Karoline von #ARTIMA hat ein Wochenende auf der Frankfurter Kunstmeile verbracht und ihre Eindrücke für Euch zusammengefasst. Die aktuelle Auswahl soll Lust auf einen Ausstellungsbesuch im Frühjahr machen.

Niki de Saint Phalle, Ausstellungsansicht, © Schirn Kunsthalle Frankfurt 2023, Foto: Norbert Miguletz

Direkt in der Innenstadt fügt sich die Schirn Kunsthalle in die neuen-alten Fassaden ringsrum. In den letzten Jahren sind hier 35 Häuser, davon 15 originalgetreue Rekonstruktionen und 20 Neubauten entstanden, die das lebendige neue Stadtviertel zwischen Dom und Römer bilden.

Absolut sehenswert wird dort eine Übersicht über das Gesamtwerk von Niki de Saint-Phalle präsentiert. Entgegen allen Klischees sind ihre Arbeiten gerade heute extrem aktuell. Bereits seit den 1960er bis in die 2000er arbeitet sich die Künstlerin an Themen wie Abtreibung, Missbrauch, Waffengesetzen und Umweltschutz ab.

Niki de Saint Phalle, Ausstellungsansicht, © Schirn Kunsthalle Frankfurt 2023; Foto: Norbert Miguletz

Von vielen nur als Erschafferin der bunten und fröhlichen Nanas bekannt, sind ihre Arbeiten deutlich vielschichtiger, autobiografisch und gesellschaftskritisch.

Sie gilt als eine der Hauptvertreterinnen der europäischen Pop Art und als Mitbegründerin des Happenings. Die französisch amerikanische Künstlerin wird in den 1960er Jahren mit Schießbildern Tirs bekannt, und erlangt später Weltruhm mit ihren Nanas.

Die Idee der Nanas ist durch eine „vierhändige Zeichnung“ inspiriert, die sie mit Larry Rivers ausführte. Den von Rivers gezeichneten Körper seiner schwangeren Frau Clarice ergänzte de Saint Phalle mit Zeichnungen und Collagen. In Bezug auf ihre Nanas spricht die Künstlerin von einem „Jubelfest der Frau“: Figuren, die weder von Männern noch von ihrem Leben unterdrückt werden. Es sind üppige, oft schwangere Frauen, die Lebensfreude und Stärke ausdrücken und das Matriarchat verkörpern. Diese archetypischen Frauengestalten mit prallen Busen, runden Bäuchen und großen Hinterteilen sowie kleinen Köpfen werden zu de Saint Phalles neuer Waffe im Einsatz gegen männliche Wunschvorstellungen, die den weiblichen Körper auf ein sexuelles Objekt reduzieren. Die Künstlerin verweist auf die Rolle der Frau, die sie durch die überdimensionalen Nanas gefunden hat:

„Ich selbst liebe meine Nanas. Ich finde sie fröhlich und lustig. Sie sind glücklich, weil sie frei sind; sie tun, was sie wollen. Sie brauchen keine Männer und sie denken auch nicht an sie.“ (Niki de Saint Phalle)

In den darauffolgenden Jahren konzipiert Niki de Saint Phalle die Nanas als unterschiedlich begreifbare Skulpturen, etwa als begehbare Kathedrale Hon oder in Form von Nana Häusern. Obwohl ihre Hautfarbe nicht festgelegt ist und Nanas in unterschiedlichsten Farben entstehen, deuten Titel wie Schwarze Rosie (1965) oder Schwarze Venus (1965–67) eine Solidarisierung mit der damaligen Black-Power-Bewegung an.

Seit Beginn ihrer künstlerischen Laufbahn faszinieren Niki de Saint Phalle architekturale Skulpturen. Besonders inspiriert war sie vom Park Güell (Barcelona, 1900–1914) von Antoni Gaudí und von dem Palais idéal (Frankreich, 1879–1912) von Ferdinand Cheval in Hauterive. Seit den späten 1950er-Jahren träumt de Saint Phalle davon, ihre eigenen großen Monumente zu errichten und mit diesen Bauten zu konkurrieren. Wichtig ist ihr, durch solche öffentlichen Bauwerke Menschen ohne Zugang zu Museen und Ausstellungen für Kunst zu begeistern. Die Absicht, große Architekturen für eine breite Zielgruppe zu realisieren, zieht sich durch ihr gesamtes Werk in unterschiedlicher Form: von früher Malerei, in der bereits Gärten und Landschaften angelegt sind, über Experimente mit Materialien in Assemblagen bis zu bewohnbaren Gebäuden, Spielhäusern für Kinder und Parks, die aus monumentalen Skulpturen zusammengestellt wurden.

Niki de Saint Phalle, Temple of all Religions, 1974–1988, Modell für den Tarotgarten, Polyester, bemalt, Spiegelmosaik, Blattgold, 202 x 122,5 x 40 cm, Sprengel Museum Hannover / bpk / Michael Herling / Aline Gwose, © 2023 Niki Charitable Art Foundation / Adagp, Paris

Einige Exponate stammen aus der 2001 entstandenen Serie von Grafiken, die sich in die große Reihe der piktografischen Briefe seit den 1960er-Jahren einreihen. In Schusswaffen (2001) setzt sich die Künstlerin mit der mangelnden Regulierung der Waffenindustrie auseinander. Mit geschmückten Buchstaben, Zeichnungen und glitzernden Aufklebern prangert sie die NRA (National Rifle Association) und andere Waffenlobbys an. Mit blutigen Details zeigt sie, wie drei Kinder erschossen werden.

In Abtreibung – Wahlfreiheit (2001) verteidigt sie die Rechte der Frauen. Mit der gleichen Technik wie in Schusswaffen legt de Saint Phalle ihre Ansichten über Mutterschaft von Teenagern, Angriffe auf Abtreibungskliniken und häusliche Gewalt dar.

Niki de Saint Phalle, Abortion - Freedom of Choice, 2001, Lithografie, Aufkleber, 56,5 x 62 cm, Ed. 16/50, Musée d'art et d'histoire Fribourg, © 2023 Niki Charitable Art Foundation / Adagp, Paris

Als visionäre Autodidaktin wechselt sie Techniken, Themen und Arbeitsweisen in künstlerischer Vielfalt, die man in der Frankfurter Ausstellung wunderbar studieren kann. Auf ihre frühen Gemälde folgen Materialassemblagen, Gruppen von Schießbildern, Zeichnungen, Schriften, Großplastiken, Theaterstücke, Filme und Installationen bis hin zu ihrem architektonischen Lebenswerk, dem Tarotgarten (1979 - 1998) in der Toskana.

Niki de Saint Phalle, Ausstellungsansicht, © Schirn Kunsthalle Frankfurt 2023, Foto: Norbert Miguletz

Nur einen kurzen Spaziergang weiter entfernt liegt das MMK, wo gerade eine umfangreiche Ausstellung über die Grande Dame der deutschen Konzeptkunst Rosemarie Trockel noch bis zum 18.06.2023 gezeigt wird.

Die Werkschau zeigt über drei Etagen Arbeiten aus allen künstlerischen Schaffensphasen, von den 1970er-Jahren bis zu neuen, eigens für das Museum entstandenen Arbeiten. Ihre Position bildet einen interessanten Gegenpart zur Saint Phalle Ausstellung, da sich beide Frauen doch mit ähnlichen Problemen auseinandersetzten.

Die Brutalität wie Absurdität normativer Ordnungen tritt im Werk von Rosemarie Trockel offen hervor. Definitionen, Einschränkungen, Bevormundung und Gewalt aufgrund von Gender werden sichtbar und durchschaubar. Mutig, wehrhaft, riskant und komisch ist ihre Vorgehensweise. In allen Medien, von Zeichnung über Malerei, Fotografie, Skulptur, Installation bis zu Film, richtet sich der soziologische Blick gleichermaßen auf gesellschaftliche Ordnungen und politische Strukturen wie auf die Natur.

Rosemarie Trockel, Gewohnheitstier 2, 1990 © Foto: Axel Schneider

Über eine der vielen Mainbrücken gelangt man bei einem schönen Spaziergang an das Frankfurter Museumsufer.

Städel Museum, Außenfassade und Holbeinsteg; Foto: Städel Museum - Norbert Miguletz

Im Städel wird noch bis Mitte April eine spekatkuläre Rauminszinierung von Michael Müller gezeigt.

Es ist eine Einzelausstellung des deutsch-britischen Künstlers. In drei Ausstellungsteilen führt er die Besucher mit einer raumfüllenden Arbeit, weiteren Zeichnungen, Gemälden und einer Skulptur in die mythologische Welt der griechischen Antike.

Ausstellungsansicht „Michael Müller: Der geschenkte Tag. Kastor & Polydeukes“; Foto: Städel Museum – Norbert Miguletz

Im Zentrum der Ausstellung steht die Arbeit Der geschenkte Tag (2021–2022), die auf dem Mythos der Dioskuren, der Zwillinge Kastor und Polydeukes, basiert.

Zwar wurden Kastor und Polydeukes am selben Tag von ihrer gemeinsamen Mutter Leda geboren, doch haben sie nicht den gleichen Vater. Polydeukes ist der Sohn von Zeus und damit als Halbgott unsterblich, während Kastor der Sohn von Tyndareos ist, dem König von Sparta, und folglich als Mensch dem Tode geweiht. Nachdem das unzertrennliche Brüderpaar durch den Tod des sterblichen Kastor im Kampf auseinandergerissen worden ist, gewährt Zeus ihnen abwechselnd je einen Tag im Hades, dem Reich der Toten, und einen Tag im Olymp unter den Göttern. Der Besucher weiß aber nicht, um was für einen Tag es sich handelt: Wiederholt er sich oder ist es ein fortlaufend neuer?

Ausstellungsansicht „Michael Müller: Der geschenkte Tag. Kastor & Polydeukes“; Foto: Städel Museum – Norbert Miguletz

Die Arbeit misst insgesamt 6 × 65 Meter und besteht aus 24 großformatigen Leinwänden. Sie symbolisieren die 24 Stunden des Tages und wurden vom Künstler ausschließlich zur jeweiligen Stunde, für die die jeweilige Leinwand steht, bemalt. Die Ausstellung findet ihren Abschluss in den Gartenhallen im Untergeschoss, wo Müller weitere Werkgruppen präsentiert und die Besucher buchstäblich in die „Unterwelt“ begleitet.

Ausstellungsansicht „Michael Müller: Der geschenkte Tag. Kastor & Polydeukes“; Foto: Städel Museum – Norbert Miguletz

In den einstigen Wallanlagen, der Grenze des Inneren zu dem Äußeren der Stadt, zwischen Banken- und Bahnhofsviertel, inmitten von Denk- und Mahnmälern, steht am Rande des Parks ein grauer Lüftungsschacht.

Cyprien Gaillard hat den Frankfurter Schacht (2021) eigens für den Ort in der Taunusanlage in Frankfurt am Main konzipiert. Die Skulptur befindet sich zwischen den S-Bahn-Aufgängen 3 und 4 der Taunusanlage und gegenüber der Adresse Taunusanlage 12.

Erst im Inneren des Schachts wird die Skulptur als solche sichtbar. Von Pink umschlossen und geschützt, im leichten Strom von Luft und Wasser, öffnet sich der Blick zum Himmel. Tag und Nacht für alle geöffnet, schließt sich der Schacht je nach Bedarf.

Jeder öffentliche Raum ist politisch, jeder öffentliche Raum ist sozial. Die Idee dahinter ist seine freie Zugänglichkeit und seine individuelle Nutzung. Gestaltet wird er von der öffentlichen Hand: hier dem Grünflächenamt, dem Denkmalamt und dem städtischen Museum. Sein Gebrauch wird imaginiert, aber ganz individuell realisiert. Über zwei Jahre hinweg hat sich Cyprien Gaillard mit diesem Ort befasst und eine Skulptur geschaffen, die weder huldigt und preist noch erinnert und mahnt, sondern einfach nur dient. Inmitten des öffentlichen Raums entsteht ein Ort der Intimität.

Cyprien Gaillard, Frankfurter Schacht, MMK Frankfurt; Foto: Timo Ohler, 2021

Besonders praktisch sind auch die Blogbeiträge und Podcasts, die die Ausstellungen in den unterschiedlichen Häusern begleiten und den Besucher schon auf der Anreise einstimmen oder im Nachgang noch einmal Denkanstöße geben.

Schirn Frankfurt
NIKI DE SAINT PHALLE
3. Februar bis 21. Mai 2023

MMK Museum für moderne Kunst
ROSEMARIE TROCKEL
10. Dezember 2022 bis 18. Juni 2023

Podcast: #14 Rosemarie Trockel - Who will be in in '99?, 1988

Städel Frankfurt
MICHAEL MÜLLER: Der geschenkte Tag. Kastor & Polydeukes
14. Oktober 2022 bis 23. April 2023

Eure Karoline

Karoline in der Ausstellung Rosemarie Trockel


 

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